Renarrativierung in der Vormoderne
Funktionen – Transformationen – Rezeption
Donnerstag 23.02. bis Samstag 25.02.2017
Bevor im späten 18. Jahrhundert der “Imperativ künstlerischer Originalität” (Klinkert 2015: 89) eine Zäsur setzte, dominierte die Bearbeitung bereits bekannter Stoffe das künstlerische Schaffen. Den Erzählern in vormoderner Zeit standen verschiedene Erzählstrategien zur Verfügung, die dazu dienten, traditionelle Erzählmuster und -modelle immer wieder zu aktualisieren. Die Forschung untersucht dieses Phänomen über die Grenzen der literatur- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen hinaus. So beschäftigen sich beispielsweise die Altertumswissenschaften intensiv mit der Formelhaftigkeit der homerischen Epen vor dem Hintergrund der oral poetry sowie der narrativen Möglichkeiten plastischer Gestaltung überlieferter Stoffe (z.B. Reliefdarstellungen, Statuengruppen) oder die Mediävistik mit dem Wiederaufgreifen französischer Stoffe in der Artusepik.
Im Sinne der geplanten Tagung soll Renarrativierung als transformierende Wiedergabe eines zuvor verfassten Narrativs verstanden werden. Dabei geht der Textbegriff über den Bereich des Literarischen hinaus, und schließt etwa auch Zeugnisse der bildenden Künste mit ein. Grundsätzlich werden Texte als “symbolic artefacts” (ERLL 2009: 1) zur Weitergabe von Wissen bzw. Narrativen verstanden. Das Sich-Beziehen auf frühere Narrative stellt dabei stets einen dynamischen Prozess des Erinnerns und Vergessens dar, in dem das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit rekonfiguriert wird. Hierbei ist ein gegenseitiges Kommentieren, Reproduzieren und Ersetzen verschiedener Medien- und Gattungsformen eine grundlegende Voraussetzung für die soziokulturelle Aktualisierung des Narrativs. Jede historische oder auch transmediale Überarbeitung ist daher auch eine kulturelle Übersetzungsleistung als Interaktion von Prä- und Retext.
Diese Übergängigkeit wird in den Medienwissenschaften unter dem Konzept der remediation gefasst (BOLTER/GRUSIN 1999), das allerdings auf neue Medien ab frühestens der Renaissance ausgelegt ist. Diese Lücke in der Forschung zur Vormoderne soll im Rahmen der geplanten Tagung diskutiert werden, ohne sich auf einen Medienwechsel zu beschränken. Das Phänomen soll daher untersucht werden anhand von Fallstudien von der griechischen Archaik bis zur einsetzenden Renaissance.
Die zeitlich-historische Dimension ist entscheidend für die Renarrativierung, da die Wiederaufnahme präexistenter Stoffe die Voraussetzung für das neu entstehende Werk ist. Damit ist allerdings nur eine der möglichen Transformationen, die der Stoff im Prozess der Retextualisierung durchläuft, bezeichnet: Darüber hinaus spielen Übergänge zwischen Medien, Kulturen, Gattungen und Sprachen eine wichtige Rolle, da das vorgefundene Material, das in einem bestimmten Kontext entstanden ist, an den veränderten Rahmen der jeweiligen Rezeptionssituation angepasst wird. Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit dem Prätext insofern dar, als sich Wiedererzählen immer auch im Spannungsfeld zwischen texttreuer und freier Gestaltung abspielt.
Das Phänomen der Renarrativierung muss dabei von dem der ‘Nacherzählung’ abgegrenzt werden. Während die Nacherzählung stärker an den vorgefundenen Stoff gebunden ist und keine wesentlichen Eingriffe in die Gestaltung von Erzählsituation und -inhalt erlaubt, betont die Forschung, dass den Autoren im Rahmen der Renarrativierung weitgehende Lizenzen zustehen: So ist die Erweiterung des Prätextes um zusätzliche Erzählebenen ebenso denkbar wie die Veränderung der Erzählperspektiven. Auch tiefgreifende Transformationen in der Gestaltung der histoire wie Figuren, Motive oder Erzählstränge sind vorstellbar. Gleichermaßen ist die Transformation eines Stoffes von einer Gattung in eine andere, die nicht selten auch mit einem Medienwechsel einhergeht, bedeutender Bestandteil der Renarrativierung.
Ein Grenzfall zwischen Nacherzählung und Renarrativierung ist die Übersetzung: Anders als die Nacherzählung, die stark an ihre Vorlage gebunden ist und dem Überarbeiter kaum Spielraum lässt, erlaubt die Übersetzung Anpassungen an die sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten; je freier eine Übersetzung wird, desto eher nähert sie sich einer Retextualisierung mit all ihren Freiheiten. Dabei ist der Begriff der Übersetzung historisch variabel und changiert zwischen wortgetreuem und sinngemäßem Übersetzen (z.B. Hieronymus ep. 57,5 verbum de verbo vs. sensum de sensu).
Im Rahmen der geplanten Tagung sollen folgende Fragestellungen zur Renarrativierung in der Vormoderne diskutiert werden, die eng miteinander verwoben sind:
- Intentionen (Autor): Warum werden bestimmte Narrative renarrativiert? Mit welchen Zielsetzungen innerhalb des Spektrums von z. B. Legitimierung über Verwendung bewährter Erzählmuster bis hin zur Aufwertung des eigenen Textes erfolgt die Retextualisierung?
Beispiel: Romulus-Motiv in der augusteischen Ideologie und in der Selbstinszenierung der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation
- Transformationen (Text): Wie stark kann der Kern eines Narrativs reduziert bzw. bis zu welchem Grad kann dieses in andere Gattungen, Medien, Sprachen, Zeiten und Kulturen übertragen werden? Wie werden solche Transformationen bewerkstelligt? Bieten sich bestimmte Teile eines Narratives als stoffliches Substrat besonders für die Renarrativierung an? Wie wird die Zeitlichkeit eines Narrativs in verschiedenen Gattungen und Medien adaptiert?
Beispiel: Willehalm-Exzerpte, die in bearbeiteter Form (Kürzungen, Umstellungen etc.) innerhalb von Weltchroniken kompiliert wurden, oder die Gigantomachie am Metopenrelief des Parthenon, die auch von Homer, Apollodor, und Pausanias beschrieben wurde
- Rezeption (Rezipient): Welche Rezeptionsbedingungen sind mit der Renarrativierung verbunden? Wie wird mit der Erwartung des Rezipienten gespielt? Wie werden Brüche und Kontinuitäten erzeugt? Welche Grenzen existieren für die Identifizierbarkeit eines Textes als Retext? Welche Kommunikation wird in der Renarrativierung in Gang gesetzt?
Beispiel: Aeneas-Narrativ von Homer über Vergil bis hin zum mittelalterlichen Antikenroman wie z.B. Heinrich von Veldeke
Für die Tagung sind Beiträge erwünscht, die sich mit diesen Fragen und Problemen auseinandersetzen. In den Beiträgen können sowohl Fallstudien als auch theoretische Überlegungen präsentiert werden, die ebenso fachspezifische, wie auch interdisziplinäre Ansätze verfolgen können. Die Beiträge sollen auf Deutsch oder Englisch verfasst werden und sollten eine Länge von 30 Minuten nicht überschreiten, damit sich jedem Beitrag eine Diskussion von etwa 15 Minuten widmen kann.
Die Tagung findet von Donnerstagabend, den 23.02.2017, bis Samstagmittag/-nachmittag, den 25.02.2017, in Freiburg statt. Falls Sie Fragen bezüglich der Beiträge, Tagung, Anfahrt, Unterbringung o.ä. haben, sind Sie herzlich dazu aufgefordert, sich an das Organisationsteam der Tagung zu wenden.
Wir freuen uns auf Ihre Beiträge.
Ansprechpartner:
Thorsten Glückhardt (Thorsten.Glueckhardt@geschichte.uni-freiburg.de)
Sebastian Kleinschmidt (Sebastian.Kleinschmidt@anglistik.uni-freiburg.de)
Verena Linder-Spohn (Verena.Linder-Spohn@germanistik.uni-freiburg.de)